17. Newsletter - November 2023
Update Rechtsprechung und Gesetzgebung
In unserem Herbst-Newsletter haben wir für Sie aktuelle Entscheidungen sowohl des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zur Abrufarbeit und Videoüberwachung am Arbeitsplatz als auch des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Gleichbehandlung von Teilzeitkräften zusammengestellt. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre. Starten Sie gleich mit dem Überblick:
I. Arbeit auf Abruf und ergänzende Vertragsauslegung
Vereinbaren Arbeitgeber und Arbeitnehmer, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung entsprechend dem Arbeitsanfall zu erbringen hat (Arbeit auf Abruf), müssen sie nach § 12 Abs. 1 Satz 2 TzBfG arbeitsvertraglich eine bestimmte Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit festlegen. Unterlassen sie das, schließt § 12 Abs. 1 Satz 3 TzBfG diese Reglungslücke, indem kraft Gesetzes eine Arbeitszeit von 20 Wochenstunden als vereinbart gilt (BAG, Urteil vom 18. Oktober 2023 – 5 AZR 22/23).
II. Offene Videoüberwachung am Arbeitsplatz und Beweisverwertungsverbot
In einem Kündigungsschutzprozess besteht grundsätzlich kein Verwertungsverbot in Bezug auf solche Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung, die vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers belegen sollen. Das gilt auch dann, wenn die Überwachungsmaßnahme des Arbeitgebers nicht vollständig im Einklang mit den Vorgaben des Datenschutzrechts stünde (BAG, Urteil vom 29. Juni 2023 – 2 AZR 296/22).
III. Diskriminierung von teilzeitbeschäftigten Piloten bei einheitlicher Auslösegrenze für Bonuszahlung?
Aktuell ist auch die Entscheidung des EuGH. Dieser entschied, dass Teilzeitbeschäftigte benachteiligt werden, wenn bei der Zahlung einer tariflichen „Mehrflugdienststundenvergütung“ ab einer bestimmten Anzahl von Arbeitsstunden nicht zwischen Voll- und Teilzeitkräften differenziert wird (EuGH, Urteil vom 19. Oktober 2023, Az. C-660/20).
I. Arbeit auf Abruf und ergänzende Vertragsauslegung
Bislang nur als Pressemitteilung liegt die brandaktuelle und wichtige Entscheidung des 5. Senats des BAG zur Abrufarbeit und ergänzenden Vertragsauslegung vor.
1. Sachverhalt
Die Klägerin war seit dem Jahr 2009 bei der Beklagten, einem Unternehmen der Druckindustrie, als „Abrufkraft Helferin Einlage“ beschäftigt. Der von ihr mit einer Rechtsvorgängerin der Beklagten geschlossene Arbeitsvertrag enthielt keine Regelung zur Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit. Die Klägerin wurde nach Bedarf in unterschiedlichem zeitlichen Umfang zur Arbeit herangezogen. Nachdem sich der Umfang des Abrufs ihrer Arbeitsleistung ab dem Jahr 2020 im Vergleich zu den unmittelbar vorangegangenen Jahren verringerte, hatte die Klägerin sich darauf berufen, ihre Arbeitsleistung sei in den Jahren 2017 bis 2019 nach ihrer Berechnung von der Beklagten in einem zeitlichen Umfang von durchschnittlich 103,2 Stunden monatlich abgerufen worden. Sie hatte gemeint, eine ergänzende Vertragsauslegung ergebe, dass dies die nunmehr geschuldete und von der Beklagten zu vergütende Arbeitszeit sei. Soweit der Abruf ihrer Arbeitsleistung in den Jahren 2020 und 2021 diesen Umfang nicht erreichte, hatte sie Vergütung wegen Annahmeverzugs verlangt.
Das Arbeitsgericht hatte, ausgehend von der gesetzlichen Regelung des § 12 Abs. 1 Satz 3 TzBfG angenommen, die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit im Abrufarbeitsverhältnis der Parteien betrage 20 Stunden. Es hatte deshalb der Klage auf Zahlung von Annahmeverzugsvergütung nur in geringem Umfang insoweit stattgegeben, als in einzelnen Wochen der Abruf der Arbeitsleistung der Klägerin 20 Stunden unterschritten hatte. Das Landesarbeitsgericht hatte die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.
2. Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin, mit der sie an ihren weitergehenden Anträgen festhielt, blieb vor dem 5. Senat des BAG erfolglos. Das BAG argumentierte, dass eine Abweichung von der gesetzlichen Regelung im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung nur dann angenommen werden kann, wenn die gesetzliche Regelung nicht sachgerecht ist und objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, die Parteien hätten bei Vertragsschluss bei Kenntnis der Regelungslücke eine andere Bestimmung getroffen und eine höhere oder niedrigere Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit vereinbart.
Um diese zu bewerten, reiche aber das Abrufverhalten des Arbeitgebers in einem bestimmten, lange nach Beginn des Arbeitsverhältnisses liegenden und scheinbar willkürlich gegriffenen Zeitraum nicht aus. Allein dem Abrufverhalten des Arbeitgebers komme ein rechtsgeschäftlicher Erklärungswert dahingehend, er wolle sich für alle Zukunft an eine von § 12 Abs. 1 Satz 3 TzBfG abweichende höhere Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit binden, nicht zu. Ebenso wenig rechtfertigte allein die Bereitschaft des Arbeitnehmers, in einem bestimmten Zeitraum mehr als nach § 12 Abs. 1 Satz 3 TzBfG geschuldet zu arbeiten, die Annahme, der Arbeitnehmer wolle sich dauerhaft in einem höheren zeitlichen Umfang als gesetzlich vorgesehen binden.
II. Offene Videoüberwachung am Arbeitsplatz und Beweisverwertungsverbot
1. Sachverhalt
Der Kläger war bei der Beklagten zuletzt als Teamsprecher in der Gießerei beschäftigt. Die Beklagte warf ihm vor, eine sog. Mehrarbeitsschicht in der Absicht nicht geleistet zu haben, sie gleichwohl vergütet zu bekommen. Nach seinem eigenen Vorbringen hatte der Kläger zwar an diesem Tag zunächst das Werksgelände betreten. Die auf einen anonymen Hinweis hin erfolgte Auswertung der Aufzeichnungen einer durch ein Piktogramm ausgewiesenen und auch sonst nicht zu übersehenden Videokamera an einem Tor zum Werksgelände ergab nach dem Vortrag der Beklagten aber, dass der Kläger das Werksgelände noch vor Schichtbeginn wieder verlassen hatte. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien außerordentlich, hilfsweise ordentlich. Die Vorinstanzen hatten der Klage stattgegeben.
2. Entscheidungsgründe
Die hiergegen gerichtete Revision der Beklagten hatte vor dem 2. Senat des BAG Erfolg. Sie führte zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht. Dieses muss nun nicht nur das Vorbringen der Beklagten zum Verlassen des Werksgeländes durch den Kläger vor Beginn der Mehrarbeitsschicht zu Grunde legen, sondern ggf. auch die betreffende Bildsequenz aus der Videoüberwachung am Tor zum Werksgelände in Augenschein nehmen. Dies folge aus den einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts sowie des nationalen Verfahrens- und Verfassungsrechts. Dabei spiele es keine Rolle, ob die Überwachung in jeder Hinsicht den Vorgaben des Bundesdatenschutzgesetzes bzw. der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) entsprächen. Selbst wenn dies nicht der Fall gewesen sein sollte, wäre eine Verarbeitung der betreffenden personenbezogenen Daten des Klägers durch die Gerichte für Arbeitssachen nach der DSGVO nicht ausgeschlossen. Dies gelte jedenfalls dann, wenn die Datenerhebung - wie hier - offen erfolgt und vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers in Rede steht. In einem solchen Fall sei es grundsätzlich irrelevant, wie lange der Arbeitgeber mit der erstmaligen Einsichtnahme in das Bildmaterial zugewartet und es bis dahin vorgehalten hat.
Mit dieser Entscheidung setzt das BAG seine verwertungsfreundliche Linie fort. Bereits in der Vergangenheit hatte das BAG betont, dass Datenschutz kein Täterschutz ist und Beweisverwertungsverbote nur bei gravierenderen Verstößen gegen datenschutzrechtliche Vorgaben anzunehmen sind. Bemerkenswert ist ferner, dass das BAG zudem entschied, dass auch eine Betriebsvereinbarung, wie sie die Beklagte abgeschlossen hatte, Beweisverwertungsverbote nicht eigenständig begründen könne.
III. Diskriminierung von teilzeitbeschäftigten Piloten bei einheitlicher Auslösegrenze für Bonuszahlung?
1. Sachverhalt
Der Arbeitnehmer ist als Pilot und Erster Offizier seit 2001 bei der Fluggesellschaft Lufthansa CityLine beschäftigt. Er arbeitete seit 2010 in Teilzeit und hat seine Arbeitszeit auf 90 Prozent der Vollarbeitszeit verringert. Nach den einschlägigen Tarifverträgen für das Cockpitpersonal erhalten Arbeitnehmer eine „Mehrflugdienststundenvergütung“, wenn sie eine bestimmte Zahl von Flugdienststunden im Monat geleistet und damit die Grenzen für die erhöhte Vergütung überschritten („ausgelöst“) haben. Diese sogenannten Auslösegrenzen gelten einheitlich für Arbeitnehmer in Teilzeit und in Vollzeit.
Der Pilot verlangte vom Arbeitgeber die Zahlung einer zusätzlichen Vergütung für Flugdienststunden, die er im Verhältnis zu seiner individuellen Arbeitszeit mehr geleistet hatte. Nach seiner Auffassung seien die tariflichen Bestimmungen unwirksam, da sie Teilzeitbeschäftigte ohne sachlichen Grund schlechter als Arbeitnehmer in Vollzeit behandelten. Die Auslösegrenzen für die Zusatzzahlung müssten proportional für Teilzeitbeschäftigte abgesenkt werden.
Der Arbeitgeber hielt die Tarifnormen dagegen für wirksam. Die Zusatzvergütung für Mehrflugdienststunden diene dazu, eine besondere Arbeitsbelastung auszugleichen. Diese bestehe aber erst, wenn die tariflichen Auslösegrenzen überschritten seien.
2. Vorlage zum EuGH
Das BAG hatte dem EuGH diesen Fall eines in Teilzeit beschäftigten Piloten vorgelegt. Die Erfurter Richter wollten wissen, ob es eine schlechtere Behandlung von Teilzeitbeschäftigten darstellt, wenn die zusätzliche Vergütung nicht bei individuellen Auslösegrenzen, sondern ab einer identischen Zahl an Arbeitsstunden für Teilzeit- und Vollzeitkräfte erfolgt. Zudem sollte durch den EuGH geprüft werden, ob eine mögliche Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten gegenüber Vollzeitbeschäftigten gerechtfertigt sein kann, wenn damit eine besondere Arbeitsbelastung ausgeglichen werden soll.
3. Entscheidungsgründe
In einem ersten Schritt stellte der EuGH fest, dass die teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer während der Zeit ihrer Beschäftigung die gleichen Aufgaben wahrnehmen wie vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer. Die Situationen der Piloten seien daher vergleichbar. Wenn aber teil- und vollzeitbeschäftigte Piloten die gleiche Anzahl an Arbeitsstunden leisten müssten, um die Zusatzvergütung zu erhalten, bedeute dies einen längeren Flugstundendienst für Teilzeitpiloten. Diese würden damit stärker belastet werden und überschreiten die Schwelle weitaus seltener als ihre vollzeitbeschäftigten Kollegen.
Eine derartige Ungleichbehandlung könne nur durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt werden. Ob ein solcher gegeben ist, müsse das BAG nun in einem zweiten Schritt prüfen. Dabei betonte der EuGH, dass das BAG die Vorbehalte des EuGH gegenüber den von der Fluggesellschaft vorgebrachten Rechtfertigungsgründen berücksichtigen müsse. Diese hatte die Festlegung einheitlicher Auslösegrenzen für Piloten mit einer besonderen Arbeitsbelastung im Flugdienst mit Auswirkungen auf die Gesundheit der Flugzeugführer begründet. Daran machte der EuGH erhebliche Zweifel deutlich. Nun ist die Entscheidung des 10. Senats des BAG abzuwarten.