Arbeitsrecht

15. Newsletter - November 2022

Drei dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegte Fälle aus Deutschland ermöglichen dem Gerichtshof, seine Urlaubsrechtsprechung zu verfeinern. Im Fokus stehen die - bekannten - Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers bei der Urlaubsgewährung. Deren Nichtbeachtung stärkt den Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers, wenn Verfall oder Verjährung drohen. Ebenso praxisrelevant wie diese Urteile ist eine unlängst ergangene Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) aus dem Bereich des Schwerbehindertenrechts. Im Überblick:

Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG (RL 2003/88) und Art. 31 Abs. 2 EU-GRCharta (GRCh) stehen einer nationalen Regelung entgegen, nach der der Anspruch auf erworbenen bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf einer Frist von drei Jahren verjährt, deren Lauf mit dem Schluss des Jahres beginnt, in dem dieser Anspruch entstanden ist, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht tatsächlich in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch wahrzunehmen (EuGH, Urteil v. 22.09.2022, Az. C-120/21).

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Art. 7 RL 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 GRCh stehen einer nationalen Regelung entgegen, nach der der Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub, den er in einem Bezugszeitraum erworben hat, in dessen Verlauf er tatsächlich gearbeitet hat, bevor er voll erwerbsgemindert oder aufgrund einer seitdem fortbestehenden Krankheit arbeitsunfähig geworden ist, entweder nach Ablauf eines nach nationalem Recht zulässigen Übertragungszeitraums oder später auch dann erlöschen kann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht rechtzeitig in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch auszuüben (EuGH, Urteil v. 22.09.2022, Az. C-518/20 und C-727/20).

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Die Amtszeit einer Schwerbehindertenvertretung endet nicht vorzeitig, wenn die Zahl der gehandicapten Mitarbeiter im Betrieb unter das Quorum von fünf rutscht (BAG, Beschluss v. 19.10.2022, Az. 7 ABR 27/21).

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1. Sachverhalt

Die Klägerin war vom 01.01.1996 bis zum 31.07.2017 bei dem Beklagten als Steuerfachangestellte und Buchhalterin beschäftigt und hatte Anspruch auf jährlich 24 Arbeitstage Urlaub. Ihren gesetzlichen Mindesturlaub nahm die Klägerin nicht vollständig in Anspruch. Der Beklagte forderte die Klägerin weder auf, weiteren Urlaub zu nehmen noch wies er darauf hin, dass nicht beantragter Urlaub verfallen könne. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses verlangte die Klägerin eine finanzielle Vergütung für die von ihr zwischen 2013 und 2017 nicht genommenen 101 Tage bezahlten Jahresurlaubs. Der Beklagte lehnte den Anspruch u. a. mit Berufung auf die Einrede der Verjährung ab.

Das Arbeitsgericht gab der am 06.02.2018 erhobenen Klage teilweise statt und sprach der Klägerin eine Abgeltung für drei im Jahr 2017 nicht genommene Tage bezahlten Jahresurlaubs zu. Hinsichtlich der Urlaubsansprüche für die Jahre 2013 bis 2016 wurde die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht (LAG) entschied daraufhin, dass die Klägerin für die Jahre 2013 bis 2016 Anspruch auf Abgeltung von 76 weiteren Tagen nicht genommenen Jahresurlaubs habe. Der Beklagte habe seine Mitwirkungsobliegenheiten bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs der Klägerin verletzt, weshalb die Ansprüche nicht nach §§ 194 ff. BGB verjährt seien. Gegen diese Entscheidung legte der Beklagte Revision ein. Das BAG setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH die Frage vor, ob Art. 7 RL 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 GRCh der Anwendung einer nationalen Regelung wie § 194 Abs. 1 i. V. m. § 195 BGB entgegenstehen, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und tatsächliche Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt habe, seinen Urlaubsanspruch auszuüben (vgl. BAG, Vorlagebeschluss v. 29.09.2020, Az. 9 AZR 266/20).

2. Entscheidung

Der EuGH beantwortet die Vorlagefrage dahingehend, dass das Unionsrecht einer nationalen dreijährigen Verjährungsfrist entgegensteht, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht tatsächlich in die Lage versetzt hat, den Urlaubsanspruch wahrzunehmen. Zur Begründung führt der Gerichtshof aus:

  • Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88 konkretisiere das in Art. 31 Abs. 2 GRCh verankerte Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub. Diesem Anspruch komme als Grundsatz des Sozialrechts der Union besondere Bedeutung zu.
  • Die RL 2003/88 selbst regele die Verjährung des Urlaubsanspruchs nicht. Die Anwendung der nationalen Verjährungsregelung des § 195 BGB führe zu einer Beschränkung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub nach Art. 7 RL 2003/88.
  • Diese Einschränkung beziehe sich auch auf Art. 31 Abs. 2 GRCh und sei deshalb nur bei Einhaltung der strengen Bedingungen des Art. 52 Abs. 1 GRCh zulässig. Dies bedeute, dass die Einschränkung gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt des betreffenden Rechts achten müsse sowie unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sein und von der EU anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen tatsächlich entsprechen müsse.
  • Die zuletzt genannte Anforderung sei nicht erfüllt. Die Gewährleistung der Rechtssicherheit sei zwar ein legitimes Ziel, dürfe aber nicht als Vorwand dafür dienen, dass sich der Arbeitgeber auf sein eigenes Versäumnis (Nichteinhaltung Mitwirkungsobliegenheiten) berufen dürfe, um daraus im Prozess Vorteile zu ziehen. Ließe man dies zu, würde man im Ergebnis ein Verhalten billigen, das zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des Arbeitgebers führe und dem eigentlich von Art. 31 Abs. 2 GRCh verfolgten Zweck, die Gesundheit des Arbeitnehmers zu schützen, zuwiderlaufe.
  • Es sei Sache des Arbeitgebers, gegen späte Anträge wegen nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs dadurch Vorkehrungen zu treffen, dass er seinen Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten gegenüber dem Arbeitnehmer nachkomme, womit die Rechtssicherheit gewährleistet werde, ohne dass das in Art. 31 Abs. 2 GRCh verankerte Grundrecht eingeschränkt würde.

3. Bewertung

Es liegt auf der Hand, dass die Entscheidung bei Arbeitgebern keinen Jubel auslösen wird. Das Urteil kommt aber nicht überraschend, liegt es doch ganz auf der Linie der bisherigen EuGH-Urlaubsrechtsprechung, die das BAG mitträgt. Die Entscheidung verdeutlicht die negativen Folgen bei Nichtbeachtung der Mitwirkungsobliegenheiten. Arbeitgeber tun daher gut daran, die Mitwirkungspflichten ernst zu nehmen und umzusetzen. Zur Erinnerung:

  • Den Arbeitgeber trifft die Initiativlast bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs des Arbeitnehmers.
  • Die Befristung des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 3 BUrlG setzt grundsätzlich voraus, dass der Arbeitgeber konkret und in völliger Transparenz dafür Sorge trägt, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Konkret muss er den Arbeitnehmer, ggf. förmlich, auffordern, seinen Urlaub zu nehmen und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn er ihn nicht beantragt.
  • Hat der Arbeitgeber diese Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfüllt, tritt der am 31.12. des Urlaubsjahres nicht verfallene Urlaub zu dem Urlaubsanspruch hinzu, der am 01.01. des Folgejahres entsteht; alte und neue Urlaubsansprüche kumulieren somit.
  • Das uneingeschränkte Kumulieren von Urlaubsansprüchen aus mehreren Jahren kann der Arbeitgeber nur dadurch verhindern, dass er seine Mitwirkungsobliegenheiten für den Urlaub aus zurückliegenden Urlaubsjahren im aktuellen Urlaubsjahr nachholt.
  • Nimmt der Arbeitnehmer in einem solchen Fall den kumulierten Urlaubsanspruch im laufenden Urlaubsjahr nicht wahr, obwohl es ihm möglich gewesen wäre, verfällt der Urlaub am Ende des Kalenderjahres bzw. eines (zulässigen) Übertragungszeitraums.

(vgl. grundlegend: BAG, Urteil v. 19.02.2019, Az. 9 AZR 423/16; diese wie die nachfolgenden Entscheidungen des BAG bezogen sich jeweils auf Sachverhalte, in denen die Arbeitnehmer nicht langzeiterkrankt waren)


1. Sachverhalt

Wegen gleicher Rechtsfragen befasste sich der EuGH mit zwei Sachverhalten. Die Klägerin des ersten Falls ist eine bei einem Krankenhaus angestellte Arbeitnehmerin, die im Verlauf des Jahres 2017 erkrankte und seitdem durchgehend arbeitsunfähig ist. Den gesetzlichen Urlaub für das Jahr 2017 nahm sie nicht vollständig in Anspruch. Die Beklagte hatte die Klägerin weder aufgefordert, ihren Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen kann. Mit ihrer Klage begehrte die Klägerin Feststellung, dass ihr 14 Tage bezahlter Jahresurlaub aus dem Jahr 2017 zustehe. Der Kläger des zweiten Falls war bei der Fraport AG, Frankfurt, beschäftigt. Infolge einer schweren Behinderung seit dem 01.12.2014 bezog er eine Rente wegen voller, aber nicht dauerhafter Erwerbsminderung, zuletzt verlängert bis 31.08.2022. Der Kläger erhob Klage auf Feststellung, dass ihm 34 Tage bezahlter Jahresurlaub aus dem Jahr 2014 zustehe, den er aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht in Anspruch habe nehmen können. Der Arbeitgeber sei seiner Obliegenheit nicht nachgekommen, an der Gewährung und Inanspruchnahme des Urlaubs mitzuwirken. In beiden Fällen beriefen sich die Arbeitgeber auf den Verfall des Urlaubs nach Ablauf von 15 Monaten ab Ende des jeweiligen Urlaubsjahres.

Die Vorinstanzen lehnten die Klagen jeweils ab. Mit den Revisionen verfolgten die Kläger ihr Klageziel weiter. Das BAG setzte die Verfahren aus und bat den EuGH um Beantwortung der Frage, ob das Unionsrecht das Erlöschen des Urlaubsanspruchs bei einer ununterbrochen fortbestehenden Erkrankung des Arbeitnehmers 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres oder einer längeren Frist auch dann gestattet, wenn der Arbeitgeber im Urlaubsjahr seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfüllt hat, obwohl der Arbeitnehmer den Urlaub bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zumindest teilweise hätte nehmen können (vgl. BAG, Vorlagebeschluss v. 07.07.2020, Az. 9 AZR 401/19 und Urteil v. 07.09.2021, Az. 9 AZR 3/21).

2. Entscheidung

Der EuGH beantwortet die Vorlagefrage negativ, d. h. Unionsrecht steht einem Verfall des Urlaubs nach Ablauf von 15 Monaten ab Ende des Urlaubsjahres entgegen, wenn der Arbeitnehmer vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit/Erwerbsminderung tatsächlich noch gearbeitet und der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfüllt hat. Seine Entscheidung leitet der Gerichtshof aus mehreren Grundsatz-Ausnahme-Prinzipien ab:

  • Grundsätzlich habe nur derjenige Arbeitnehmer Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, der im Laufe des Bezugszeitraumes tatsächlich gearbeitet habe. Dies gelte nicht, wenn der Arbeitnehmer während des Bezugszeitraums krankgeschrieben sei. Kranke Arbeitnehmer würden hinsichtlich des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub solchen gleichgestellt, die in diesem Zeitraum tatsächlich gearbeitet hätten.
  • Grundsätzlich könne der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht erlöschen. Ausnahmen von dieser Regel seien nur unter besonderen Umständen anerkannt. Ein besonderer Umstand liege vor, wenn ein Arbeitnehmer während mehrerer aufeinanderfolgender Bezugszeiträume arbeitsunfähig sei. In dieser Konstellation sei es ausnahmsweise zulässig, dass Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf eines Übertragungszeitraumes von 15 Monaten erlöschen.
  • Kein besonderer Umstand und mithin keine Ausnahme sei gerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber seiner Obliegenheit nicht nachgekommen sei, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Urlaub tatsächlich zu nehmen. In diesem Fall müsse der Arbeitgeber die sich hieraus ergebenden Folgen tragen. Alles andere liefe darauf hinaus, den unionsrechtlichen Urlaubsanspruch inhaltlich auszuhöhlen.
  • Da nur der Urlaubsanspruch des Bezugszeitraums betroffen sei, in dem die Arbeitsunfähigkeit/volle Erwerbsminderung eingetreten sei, bestehe nicht die Gefahr einer unbeschränkten Ansammlung von Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub.

3. Bewertung

Die EuGH-Entscheidung führt zu einer weiteren Ausdifferenzierung:

Arbeitgeber müssen ihren Hinweis- und Mitteilungspflichten gegenüber allen Arbeitnehmern - egal ob gesund oder krank/erwerbsgemindert - nachkommen. Da der Eintritt einer (langandauernden) Arbeitsunfähigkeit/Erwerbsminderung in der Regel nicht voraussehbar ist, ist es ratsam, diese Mitwirkungsobliegenheiten zu Beginn des Kalenderjahres zu erfüllen und ggf. im Verlauf des Jahres nochmals zu wiederholen.


1. Sachverhalt

Die Arbeitgeberin mit Sitz in L betreibt u. a. in K einen Betrieb mit ca. 120 Mitarbeitern. In K ist ein Betriebsrat gebildet. Im Betrieb in K wurde im November 2019 eine Schwerbehindertenvertretung gewählt, zuvor wurden die Interessen der Schwerbehinderten aus dem Betrieb in K durch die Schwerbehindertenvertretung in L vertreten. Zum 01.08.2020 sank die Zahl der schwerbehinderten Beschäftigten und diesen Gleichgestellten im Betrieb in K unter die Anzahl von 5 auf 4 ab. Die Arbeitgeberin informierte die Schwerbehindertenvertretung darüber, dass sie nicht mehr existiere und die schwerbehinderten Beschäftigten zukünftig wieder von der Schwerbehindertenvertretung im Betrieb L betreut würden. Mit dem von ihr eingeleiteten Verfahren hat die Schwerbehindertenvertretung des Betriebes in K Feststellung begehrt, dass ihr Amt nicht aufgrund des Absinkens der Anzahl schwerbehinderter Menschen im Betrieb vorzeitig beendet sei.

Arbeitsgericht und LAG wiesen den Antrag unter Hinweis auf das Betriebsverfassungsrecht, dessen Grundsätze für das Ende der Amtszeit des Betriebsrats auf die Schwerbehindertenvertretung zu übertragen seien, ab.

2. Entscheidung

Das BAG gab der Schwerbehindertenvertretung Recht. Das Amt der Schwerbehindertenvertretung sei nicht vorzeitig beendet. Eine ausdrückliche Regelung, die das Erlöschen der Schwerbehindertenvertretung bei Absinken der Anzahl schwerbehinderter Beschäftigter unter den Schwellenwert nach § 177 Abs. 1 S. 1 SGB IX vorsehe, stehe nicht im Gesetz. Eine vorzeitige Beendigung der Amtszeit sei auch nicht aus gesetzessystematischen Gründen oder im Hinblick auf den Zweck des Schwellenwertes geboten.

3. Bewertung

Die Entscheidung liegt - soweit ersichtlich - bisher nur als kurze Mitteilung vor und ist erfrischend klar: Was nicht im Gesetz steht, gilt nicht. Interessant ist die Entscheidung, weil es in diesem Punkt keinen Gleichlauf zwischen Betriebsverfassungsrecht und Schwerbehindertenrecht gibt.

 

 

Bitte beachten Sie, dass diese Darstellung die bisherige und die aktuelle Rechtslage nur auszugsweise und verkürzt wiedergibt. Sie kann daher eine individuelle, auf den Einzelfall bezogene Rechtsberatung nicht ersetzen.

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