Arbeitsrecht

Mandanteninformation zu dem Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 13.09.2022, Az. 1 ABR 22/21, zur Arbeitszeiterfassung

Mit seiner vorgestern ergangenen Entscheidung, die medial umgehend mit den Prädikaten wichtig und weitreichend belegt wurde, setzt das Bundesarbeitsgericht (BAG) einen Paukenschlag und überholt ganz nebenbei noch den Gesetzgeber. Die bisher lediglich als Pressemitteilung vorliegende Entscheidung und erste Einschätzungen dazu haben wir für Sie zusammengefasst:


1. Sachverhalt

Betriebsrat und Arbeitgeberinnen, eine von zwei Unternehmen gemeinsam betriebene vollstationäre Wohneinrichtung mit ca. 100 Beschäftigten, streiten über die Zuständigkeit einer Einigungsstelle. 2018 schlossen die Betriebsparteien eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit. Die zeitgleich geführten Verhandlungen über eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeiterfassung wurden abgebrochen, eine Einigung kam nicht zustande. Der Betriebsrat leitete daraufhin ein Beschlussverfahren zur Einsetzung einer Einigungsstelle zum Thema „Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Einführung und Anwendung einer elektronischen Zeiterfassung“ ein. Die Arbeitgeberinnen rügten die Zuständigkeit der Einigungsstelle mit dem Hinweis darauf, dass bei Einführung einer technischen Einrichtung i. S. d. § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG nach der Rechtsprechung des BAG kein Initiativrecht des Betriebsrats bestehe. Das Arbeitsgericht wies den Antrag des Betriebsrats zurück, das Landesarbeitsgericht gab ihm dagegen statt.

 

2. Entscheidung

Das BAG teilte die Sicht des Landesarbeitsgerichts nicht und entschied zugunsten der Arbeitgeberinnen. Der Betriebsrat habe nach § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG in sozialen Angelegenheiten nur mitzubestimmen, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht bestehe. Bei unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG sei der Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Dies schließe ein - ggf. mithilfe der Einigungsstelle durchsetzbares - Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung aus.

§ 3 ArbSchG lautet auszugsweise:

㤠3 Grundpflichten des Arbeitgebers

(1) Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Er hat die Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und erforderlichenfalls sich ändernden Gegebenheiten anzupassen. (…)

(2) Zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach Absatz 1 hat der Arbeitgeber unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten

1. für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen (…)“

 

3. Praxishinweis

Die Entscheidung des BAG kam - auch für die Fachwelt - sehr überraschend, wurzelte der Sachverhalt doch tief in einer betriebsverfassungsrechtlichen Fragestellung. Aus Arbeitgebersicht sehr positiv zu bewerten ist, dass das BAG an seiner Rechtsprechung festhält und - entgegen der Vorinstanz - dem Betriebsrat kein Initiativrecht im Rahmen des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG einräumt. Hätte sich die Vorinstanz durchgesetzt, wäre eine massive Erweiterung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats die Folge gewesen. Das BAG hat in dieser Frage für Klarheit gesorgt, doch der Preis ist hoch.

Nach bisherigem Verständnis gab es nach geltendem Recht keine allgemeine Pflicht des Arbeitgebers, jegliche Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 14.05.2019 („Stechuhr für alle“) wurde überwiegend so verstanden, dass es den Arbeitgeber nicht direkt bindet, sondern der Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber bedarf. Der gesetzliche Anpassungsbedarf sollte laut Koalitionsvertrag der Regierung geprüft werden. Das BAG sieht dies deutlich anders. Es leitet eine bereits jetzt bestehende Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit aller Arbeitnehmer unter Berücksichtigung des Stechuhr-Urteils des Europäischen Gerichtshofes aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG ab. Damit statuiert das BAG eine neue, so bisher nicht erkannte Pflicht des Arbeitgebers.

Aus der Pressemitteilung ist nicht ersichtlich, ob sich das BAG auch dazu geäußert hat, in welcher Form der Arbeitgeber diese Pflicht umzusetzen hat, ob also bspw. zwingend eine elektronische Zeiterfassung erforderlich ist. Stand jetzt ist dies zu verneinen. Stand jetzt ist mit dem Beschluss auch weder Vertrauensarbeitszeit noch mobiles Arbeiten/Homeoffice faktisch unmöglich und vom Tisch. Allerdings hat der Arbeitgeber auch bei diesen Formen der Arbeitszeitgestaltung zukünftig Kontrollpflichten einzuhalten. Sein Aufwand erhöht sich nicht unerheblich. Die Arbeitgeberpflichten sind somit umrissen, es besteht grundsätzlich Handlungsbedarf.

Die dogmatische Einordnung der Entscheidung durch die Fachpresse, die vermutlich sehr kritisch ausfallen wird, bleibt ebenso abzuwarten wie die Begründung des Beschlusses selbst.

 

 

Bitte beachten Sie, dass diese Darstellung die bisherige und die aktuelle Rechtslage nur auszugsweise und verkürzt wiedergibt. Sie kann daher eine individuelle, auf den Einzelfall bezogene Rechtsberatung nicht ersetzen.

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