Arbeitsrecht

13. Newsletter - November 2021

Die Betriebsrisikolehre war bereits Gegenstand unseres letzten Newsletters. Zwischenzeitlich beim Bundesarbeitsgericht angekommen, können wir Sie in der aktuellen Ausgabe unseres Newsletters darüber informieren, wie die Erfurter Richter die Sache sehen. Vorstellen möchten wir Ihnen außerdem zwei praxisrelevante Entscheidungen zu den Themen Arbeitsunfähigkeit und Arbeitszeugnis. Im Überblick:

Muss der Arbeitgeber seinen Betrieb aufgrund eines staatlich verfügten allgemeinen „Lockdowns“ zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vorübergehend schließen, trägt er nicht das Risiko des Arbeitsausfalls und ist nicht verpflichtet, den Beschäftigten Vergütung unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs zu zahlen (BAG, Urteil v. 13.10.2021, Az. 5 AZR 211/21).

Mehr erfahren

Kündigt ein Arbeitnehmer sein Arbeitsverhältnis und wird er am Tag der Kündigung arbeitsunfähig krankgeschrieben, kann dies den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung insbes. dann erschüttern, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst (BAG, Urteil v. 08.09.2021, Az. 5 AZR 149/21).

Mehr erfahren

Ein Zeugnis, das in tabellarischer Form eine Vielzahl von Bewertungskriterien gleichrangig nebeneinander auflistet und nach Schulnoten bewertet, genügt nicht den Anforderungen an ein qualifiziertes Arbeitszeugnis i. S. v. § 109 GewO (BAG, Urteil v. 27.04.2021, Az. 9 AZR 262/20).

Mehr erfahren


1. Sachverhalt

Die Beklagte betreibt einen Handel mit Nähmaschinen und Zubehör und unterhält eine Zweigfiliale in Bremen. Die Klägerin ist dort als geringfügig Beschäftigte gegen eine monatliche Vergütung von € 432,00 tätig. Im April 2020 war die Zweigfiliale aufgrund der „Allgemeinverfügung über das Verbot von Veranstaltungen, Zusammenkünften und der Öffnung bestimmter Betriebe zur Eindämmung des Coronavirus“ der Freien Hansestadt Bremen vom 23.03.2020 geschlossen. Deshalb konnte die Klägerin nicht arbeiten und erhielt auch keine Vergütung. Mit ihrer Zahlungsklage begehrte sie das Entgelt für den Monat April 2020 unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs. Sie argumentierte, dass die Schließung des Betriebs aufgrund behördlicher Anordnung ein Fall des von der Beklagten als Arbeitgeberin zu tragenden Betriebsrisikos sei.

Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht (LAG) ließ die Revision zu.

 

2. Entscheidung

Die Revision der Beklagten hatte Erfolg. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschied, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Entgeltzahlung unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs habe. Der Arbeitgeber trage nicht das Risiko des Arbeitsausfalls, wenn - wie hier - zum Schutz der Bevölkerung vor schweren und tödlichen Krankheitsverläufen in Folge von SARS-CoV-2-Infektionen durch behördliche Anordnung in einem Bundesland die sozialen Kontakte auf ein Minimum reduziert und nahezu flächendeckend alle nicht für die Versorgung der Bevölkerung notwendigen Einrichtungen geschlossen würden. In einem solchen Fall realisiere sich nicht ein in einem bestimmten Betrieb angelegtes Betriebsrisiko. Die Möglichkeit der Arbeitsleistung sei vielmehr Folge eines hoheitlichen Eingriffs zur Bekämpfung einer die Gesellschaft insgesamt treffenden Gefahrenlage. Es sei Sache des Staates, ggf. für einen adäquaten Ausgleich der den Beschäftigten durch den hoheitlichen Eingriff entstehenden finanziellen Nachteile - wie es zum Teil mit dem erleichterten Zugang zum Kurzarbeitergeld erfolgt sei - zu sorgen. Soweit ein solcher - wie bei der Klägerin als geringfügig Beschäftigter - nicht gewährleistet sei, beruhe dies auf Lücken in dem sozialversicherungsrechtlichen Regelungssystem. Aus dem Fehlen nachgelagerter Ansprüche lasse sich jedoch keine arbeitsrechtliche Zahlungspflicht des Arbeitgebers herleiten.

 

3. Bewertung

Betriebsrisiko ist das Risiko des Arbeitgebers, seinen Betrieb nicht betreiben zu können, etwa bei Brandschäden, Naturkatastrophen oder witterungsbedingtem Arbeitsausfall. Bei dieser Rechtsfigur geht es um die Frage, ob der Arbeitgeber zur Entgeltzahlung verpflichtet ist, wenn er ohne eigenes Verschulden zur Beschäftigung der Arbeitnehmer nicht mehr in der Lage ist. Davon abzugrenzen ist das Wirtschaftsrisiko, das Fälle betrifft, in denen die Fortsetzung des Betriebs wegen Auftrags- oder Absatzmangels wirtschaftlich sinnlos ist.

Das BAG knüpfte in seiner älteren Rechtsprechung noch an die vom Reichsgericht und Reichsarbeitsgericht entwickelte Betriebsrisikolehre inklusive Sphärentheorie an. In seiner neueren Rechtsprechung modifizierte das BAG diese Grundsätze und lehnte die Sphärentheorie ab. Gelöst werden die Fälle über § 615 BGB. Dieser Lösungsansatz ist seit der Schuldrechtsreform 2020 im Gesetz in § 615 S. 3 BGB verankert. Danach kann der Arbeitnehmer die vereinbarte Vergütung auch dann verlangen, wenn die Arbeit ausfällt und der Arbeitgeber das Risiko des Arbeitsausfalls trägt. § 615 S. 3 BGB enthält eine Rechtsgrundverweisung auf die Sätze 1 und 2 dieser Norm.

Entschieden hat das BAG bisher, dass der Lohnanspruch des Arbeitnehmers bei Naturkatastrophen, Bränden, Mangel an Rohstoffen und Unterbrechungen der Strom- oder Gasversorgung fortbesteht. Muss der Betrieb aus rechtlichen Gründen vorübergehend eingestellt werden, wie bspw. bei behördlichen Maßnahmen, trägt der Arbeitgeber auch in diesen Konstellationen das Betriebsrisiko mit der Folge, dass der Arbeitnehmer den Vergütungsanspruch behält.

Der 5. Senat des BAG hat in seiner aktuellen Entscheidung den durch die bisherige Rechtsprechung vorgezeichneten Pfad verlassen - das Urteil wird Furore machen und die dogmatische Auseinandersetzung damit nicht lange auf sich warten lassen. Die bisher nur als Pressemitteilung vorliegende Entscheidung überzeugt inhaltlich, denn die flächendeckenden, coronabedingten Betriebsstilllegungen sind mit den bisher entschiedenen Fällen nicht vergleichbar. Das BAG hat die Sonderkonstellation - Bevölkerungsschutz, behördliche Anordnung, Einschränkung der Mobilität - benannt und zutreffend entschieden.


1. Sachverhalt

Die Klägerin war bei der Beklagten seit Ende August 2018 als kaufmännische Angestellte beschäftigt. Am 08.02.2019 kündigte sie das Arbeitsverhältnis zum 22.02.2019. Zugleich legte sie der Beklagten eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB) vor, in der eine Ersterkrankung vom 08.02.2019 bis 22.02.2019 festgestellt war. Die Beklagte verweigerte die Entgeltfortzahlung mit der Begründung, dass der Beweiswert der AUB erschüttert sei, weil diese genau die Restlaufzeit des Arbeitsverhältnisses nach der Eigenkündigung abdecke. Die Klägerin erhob Zahlungsklage auf Entgeltfortzahlung für den strittigen Zeitraum und machte geltend, dass sie ordnungsgemäß krankgeschrieben gewesen sei und kurz vor einem Burn-out gestanden habe.

Die Vorinstanzen gaben der Zahlungsklage statt.

 

2. Entscheidung

Die nachträglich zugelassene Revision der Beklagten hatte Erfolg. In seiner bisher nur als Pressemitteilung vorliegenden Entscheidung äußerte das BAG, dass die Klägerin die von ihr behauptete Arbeitsunfähigkeit im Streitzeitraum zunächst in einer AUB nachgewiesen habe. Diese sei das gesetzlich vorgesehene Beweismittel. Dessen Beweiswert könne der Arbeitgeber erschüttern, wenn er tatsächliche Umstände darlegt und ggf. beweist, die Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit geben. Gelinge das dem Arbeitgeber, müsse der Arbeitnehmer substantiiert darlegen und beweisen, dass er arbeitsunfähig war. Der Beweis könne insbes. durch Vernehmung des behandelnden Arztes nach entsprechender Befreiung von der Schweigepflicht erbracht werden. Die Beklagte habe den Beweiswert der AUB nach diesen Grundsätzen erschüttert. Die Koinzidenz zwischen der Kündigung vom 08.02. zum 22.02.2019 und der am 08.02. bis zum 22.02.2019 bescheinigten Arbeitsunfähigkeit begründeten einen ernsthaften Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit. Die Klägerin sei im Prozess ihrer Darlegungslast zum Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit nicht hinreichend konkret nachgekommen, weshalb die Klage abzuweisen war.

 

3. Bewertung

In Deutschland werden jährlich ca. 75 Mio. AUBs ausgestellt, deren praktische Bedeutung ist offenkundig. Erhebliche Relevanz kommt der AUB im Prozessrecht zu. Muss der Arbeitnehmer als Voraussetzung für den Anspruch auf Entgeltfortzahlung die Arbeitsunfähigkeit darlegen und beweisen, ist die AUB das gesetzlich vorgesehene und damit wichtigste Beweismittel für die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit. Nach arbeitsgerichtlicher Rechtsprechung begründet sie eine tatsächliche Vermutung für das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit. Deshalb kann das Arbeitsgericht grundsätzlich den Beweis der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer eine ordnungsgemäße AUB vorlegt. Allgemein anerkannt in der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung und Fachliteratur ist, dass der Arbeitgeber, der die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers in Zweifel zieht und die AUB nicht gelten lassen will, den Beweiswert der AUB erschüttern kann. Dazu muss er im Rechtsstreit tatsächliche Umstände darlegen und beweisen, die zu ernsthaften Zweifeln an der behaupteten krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit Anlass geben. Gelingt ihm dies, ist beweisrechtlich der Arbeitnehmer wieder am Zug und muss substantiiert darlegen und beweisen, dass er tatsächlich arbeitsunfähig war. Soweit aus der Pressemitteilung ersichtlich, bewegt sich die Entscheidung des 5. Senats in den bekannten Bahnen und stärkt die Arbeitgeberposition, indem auffällige Datengleichklänge als ausreichend für eine Erschütterung des Beweiswerts der AUB anerkannt werden. Ob Arbeitgeber zukünftig häufiger die Entgeltfortzahlung verweigern werden, bleibt abzuwarten. Denn mit der Erschütterung des Beweiswertes der AUB ist der Prozess noch nicht gewonnen. Kann der Arbeitnehmer die Arbeitsunfähigkeit anderweitig beweisen, wird ihm das Gericht den Anspruch zusprechen.

Und zukünftig? Ab 01.07.2022 wird die AUB digital ausgestellt und an die gesetzliche Krankenkasse übermittelt. Nach deren Eingang hat diese eine Meldung zum Abruf für den Arbeitgeber zu erstellen. Die in § 5 Abs. 1 S. 2 bis 5 EFZG geregelte Nachweispflicht für gesetzlich versicherte Arbeitnehmer gilt ab 01.07.2022 nicht mehr. Allerdings bleiben diese Arbeitnehmer nach der Neuregelung des § 5 Abs. 1a EFZG verpflichtet, zu den in Abs. 1 S. 2 bis 4 genannten Zeitpunkten das Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer feststellen und sich darüber eine ärztliche Bescheinigung aushändigen zu lassen. Dem Arbeitnehmer soll damit für Streitfälle ein Beweismittel an die Hand gegeben werden. Spannend wird, wie die Arbeitsgerichte den Beweiswert solcher Mitteilungen bewerten, insbes. wenn die Arbeitsunfähigkeit nicht unmittelbar aufgrund einer persönlichen ärztlichen Untersuchung, sondern durch eine Fernuntersuchung per Videosprechstunde festgestellt wurde.


1. Sachverhalt

Der Kläger war bei der Beklagten als Elektriker beschäftigt. Nach Eigenkündigung endete das Arbeitsverhältnis zum 30.06.2018. Die Beklagte erteilte dem Kläger ein Arbeitszeugnis in Tabellenform, das einem Schulzeugnis ähnelt. Mit Form und Inhalt dieses Arbeitszeugnisses war der Kläger nicht einverstanden und klagte auf Erfüllung seines Zeugnisanspruchs.

Das Arbeitsgericht gab der Klage teilweise statt und formulierte im Tenor ein Zeugnis im Fließtext. Das LAG berichtigte das Zeugnis auf die Berufungen beider Parteien und hielt die tabellarische Form für zulässig. In der vom LAG berichtigten Fassung hat das Arbeitszeugnis folgenden Inhalt:

Bildquelle: https://beck-online.beck.de/Home

 

2. Entscheidung

Die Revision des Klägers hatte Erfolg. Das BAG hob das angefochtene Urteil auf und wies es an das LAG zurück. Zu Unrecht habe das LAG angenommen, dass eine Leistungs- und Verhaltensbeurteilung in Form einer tabellarischen Darstellung und Bewertung stichwortartig beschriebener Tätigkeiten nach Schulnoten den Anforderungen an ein qualifiziertes Zeugnis nach § 109 GewO genüge. Das qualifizierte Arbeitszeugnis sei ein individuell auf den einzelnen Arbeitnehmer zugeschnittenes Arbeitspapier, das dessen persönliche Leistung und sein Verhalten im Arbeitsverhältnis dokumentieren solle. Der verständige Zeugnisleser erwarte, dass das Zeugnis eine Gewichtung der Leistungen und Eigenschaften enthalte. Individuelle Hervorhebungen und Differenzierungen ließen sich regelmäßig nur durch ein im Fließtext formuliertes Arbeitszeugnis angemessen herausstellen. Nur dann seien sie geeignet, die besonderen Nuancen des beendeten Arbeitsverhältnisses darzustellen und damit den Zeugniszweck als aussagekräftige Bewerbungsunterlage in Bezug auf seine konkrete Person zu erfüllen. Ein Zeugnis in Tabellenform, das eine Vielzahl einzelner Bewertungskriterien gleichrangig nebeneinander aufführe und mit „Schulnoten“ bewerte, verfüge nicht über den erforderlichen Informationswert und werde diesen Anforderungen insgesamt nicht gerecht.

 

3. Bewertung

In der arbeitsrechtlichen Fachliteratur werden jüngere Entwicklungen und ein Trend hin zur Erstellung qualifizierter Arbeitszeugnisse in Tabellenform thematisiert. In seinem Urteil hat sich der 9. Senat des BAG zu dieser Entwicklung deutlich positioniert und dem Arbeitszeugnis in Tabellenform eine klare Absage erteilt. Arbeitgeber erfüllen den Zeugnisanspruch der Arbeitnehmer nur dann, wenn sie das Zeugnis verständlich und im Fließtext formulieren.

Da das BAG in seiner Begründung als Maßstab ausdrücklich auf einen objektiven Arbeitgeber und verständigen Zeugnisleser abstellt, sei die Frage erlaubt, welche Ergebnisse eine Umfrage unter Arbeitgebern zum Thema Zeugnis in Tabellenform zu Tage fördern würde. In einer digitalisierten, temporeichen Arbeitswelt haben sich die Erwartungen eines objektiven Arbeitgebers und verständigen Zeugnislesers möglicherweise geändert.

 

Bitte beachten Sie, dass diese Darstellung die bisherige und die aktuelle Rechtslage nur auszugsweise und verkürzt wiedergibt. Sie kann daher eine individuelle, auf den Einzelfall bezogene Rechtsberatung nicht ersetzen.

Für eine individuelle Rechtsberatung stehen wir Ihnen gern zur Verfügung.
Fragen Sie uns an!

Zur Übersicht